Sehnsuchtsort Sizilien

Detlef liebt Sizilien. Dort, weit im Süden der Insel, fühlt er sich nicht eingeengt, nicht gefesselt, hat Freunde, kann tun und lassen, was er will. Dass er dort acht Jahre auf der Straße gelebt hat, schreckt ihn nicht ab. Im Gegenteil.

Von Andreas Sebald

Manchmal wird einem alles zu viel. Weglaufen erscheint dann als eine Option, die die meisten aber nicht ziehen. Detlef schon. Vor einigen Jahren, da wurde ihm alles zu viel, es ging nichts mehr. Ehe in die Brüche gegangen, Job verloren, dazu noch psychische Probleme, die ein Klinikaufenthalt nicht lindern konnte. Detlef wollte weg. Einfach nur weg. Also kaufte er sich ein Ticket nach Lloret de Mar und brach auf. Kaiserslautern ließ er hinter sich. In Spanien angekommen zog er alsbald weiter nach Barcelona, wo er einige Monate verbrachte. Als das Geld alle war, zog er auf die Straße, lernte ein paar Leute kennen und blieb. Mit Betteln hielt er sich über Wasser, erlebte aber auch sehr viel Menschlichkeit und Mitgefühl, wie er bei einem Treffen in den Räumen der Altenhilfe „alt – arm – allein“ erzählt. „Ein spanischer Priester hat mir seinen Schlafsack geschenkt, einfach so, das war sein Schlafsack, es stand sogar noch sein Name drauf.“

Von Barcelona nach Sizilien Nach einigen Monaten in der katalanischen Metropole sei ein Bekannter, ebenfalls Deutscher, auf die Idee gekommen, nach Sizilien aufzubrechen. Gesagt, getan. Mit einem Schlenker über das italienische Festland setzen die beiden mit der Fähre über auf die Insel. Angekommen in Palermo beschloss Detlef, dass die Stadt nichts für ihn ist. „Zu gefährlich“, befand er und zog weiter in den Süden der Insel – und blieb acht Jahre. Die fremde Sprache, Italienisch und Sizilianisch, was von einigen Sprachwissenschaftlern als eigenständige Sprache gewertet wird und nicht etwa als ein Dialekt des Italienischen, eignete er sich über die Jahre an.

Sprachliche Probleme sind dem aus dem Münsterland stammenden Detlef nicht fremd. Als er In den 1980er Jahren nach Lautern kam, verstand er die Leute auch kaum, berichtet er. „Bis ich mal verstanden habe, was die Wörter für Kartoffel und Jacke sind.“ Mit Mitte 20 hatte es ihn in die Barbarossastadt verschlagen, wegen der Arbeit. In der Firma seines Schwagers begann er eine Ausbildung als Werbekaufmann. Zuvor hatte er in seiner Heimat, im Münsterland, eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann begonnen, diese aber nicht vollenden können, weil ihn kurz vor den Prüfungen ein schwerer Motorradunfall außer Gefecht setzte: sein Bein war kaputt.

In Kaiserslautern überwarf er sich kurz vor Ende der Ausbildung mit seinem Schwager, der ihn aus der Firma warf. Kurze Zeit später verlor er auch seine Wohnung. Er wechselte in die Gastronomie, eine Branche, in der er zwischen seinen beiden Ausbildungen bereits einige Erfahrungen gesammelt hatte. „Dort habe ich teilweise 500 Mark am Tag verdient“, erzählt er. Er übernahm den Service in einem Betrieb, der zur Spitzengastronomie zählte, das Trinkgeld saß locker bei der Kundschaft. Detlef war in Kaiserslautern angekommen, fand eine Frau, heiratete, wurde Vater. „So nach 15 Jahren etwa ist dann die Ehe in die Brüche gegangen und ich bin ausgezogen.“ Er schlug sich noch einige Jahre als Paketfahrer durch, dann setzten ihm psychische Probleme zu, er versank in Depressionen.

Ab in den Süden Nach einem Klinikaufenthalt brach er die Zelte ab in Kaiserslautern, brach auf in den Süden – und seine Laune wurde mit jedem Kilometer, den er sich von seinem alten Leben entfernte, besser. „Bereits an der französischen Grenze ging es mir schon wesentlich besser.“ So richtig gut ging es ihm dann auf Sizilien. In einem kleinen Ort an der Südküste ließ er sich nieder. Zwar lebte er auf der Straße, quasi von der Hand in den Mund, aber er fühlte sich akzeptiert und von den Menschen unterstützt. Sie versorgten ihn mit Essen, steckten ihm Geld zu, einer der Fischer besorgte ihm sogar ein Dach über dem Kopf – in einer kleinen Fischerhütte. „Die Leute waren sehr nett und haben das wenige, das sie hatten, sogar noch mit mir geteilt.“ Und seine psychischen Probleme? „Ich war wie ausgewechselt, ein erhebendes Gefühl“, blickt er auf die Zeit zurück.

Große Hilfe war ihm eine Deutsche, mit der er sich anfreundete. Sie war in der protestantischen Kirche aktiv und unterstützte ihn, gemeinsam mit ihrem Mann. Als die Fischerhütte anderweitig gebraucht wurde, schenkte sie ihm ein Zelt und ließ ihn auf ihrem Grundstück campieren. Und: Sie kümmerte sich, als ihn eine schwere Lungenentzündung ins Krankenhaus brachte. Dort angekommen, wurde auch sein schwaches Herz behandelt und ihm ein Schrittmacher eingesetzt. „Du kannst hier nicht bleiben, du hast keine Krankenversicherung“, habe ihm seine Freundin gesagt. Er fasste schweren Herzens den Entschluss, zurück nach Deutschland zu gehen. „Ich weiß bis heute nicht, wer meine Krankenhausrechnung bezahlt hat“, sagt Detlef. Seine Freundin habe das nie thematisiert.

2019, kurz vor Beginn der Pandemie, war Detlef also zurück in der Barbarossastadt, nach acht Jahren im Süden. Er kam bei der Caritas unter, zog dann später in eine Wohngemeinschaft im Geranienweg. Zurück in Deutschland ging es Detlef wieder schlechter, vor allem mental. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Wohngemeinschaft, war an einem Ort, an der er nicht sein wollte, erzählt er. Er begann zu trinken, betäubte sich mit Alkohol. Als er im vergangenen Sommer offiziell das Rentenalter erreichte, verschlimmerte sich seine Situation abermals. „Da bin ich voll aufgelaufen“, sagt er. Die Depressionen kehrten zurück und mit ihnen Angstzustände. „Ich war, gelinde gesagt, einfach überfordert.“ Überfordert, die notwendigen Behördengänge zu erledigen, die die Weichen für seinen Rentenbezug stellen sollten. Dazu kam, dass auf einen Schlag das Geld alle war.

Ein Aushang bei den Franziskanerinnen, wo er ab und zu zu Mittag aß, brachte Detlef zu „alt – arm – allein“. Im Oktober 2023 saß er zum ersten Mal im Büro von Sabine Paulus, der Geschäftsstellenleiterin. „Wäre sie nicht gewesen …“, sagt er. „alt – arm – allein“ half mit einem Darlehen, Mietschulden zu begleichen und so zu verhindern, dass Detlef auf der Straße landet. Das Geld zahlt er regelmäßig ab, auch seine Rente soll demnächst auf sein Konto kommen, sagt er. „Das ist alles so weit geregelt.“

Aber Sizilien, da will er noch mal hin. „Freunde besuchen. Hier habe ich keine Freunde“, sagt er. Auch in seine alte Heimat, ins Münsterland, hat er keine Verbindungen mehr. Ja, vor rund 30 Jahren, da war er noch einmal dort, berichtet er. Aber da hatte sich in der Heimat bereits so viel verändert. Ostern habe er dann dort verbracht, in Münster in einem Hotel, dann sei er wieder gefahren.

Ohne Rückfahrkarte Also Sizilien. Mit dem Gedanken, einfach in den Bus zu steigen, habe er schon gespielt, auch schon mal Buspläne studiert. Aber nein, überstürzen will er es nicht. Nein. Zunächst will er alles „in geregelten Bahnen“ wissen, seine Rente regelmäßig beziehen, ein wenig Geld auf die Seite legen. „Klären Sie das bitte auch noch mit Ihrer Krankenversicherung. Versprechen Sie mir das!“, appelliert Sabine Paulus. Detlef nickt. Und die Fahrkarte? Wäre das dann eine mit Rückfahrt? „Erst mal würde ich mir nur eine für eine einfache Fahrt kaufen.“ Er wisse ja nicht, wie lang er bleiben wolle. Detlef lächelt.

*Name wurde von der Redaktion geändert

Quelle: DIE RHEINPFALZ, Ausgabe Pfälzische Volkszeitung vom 23. Dezember 2023

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