Die 80-jährige Genrietta D. kam 2002 aus Russland, damit ihr kranker Sohn medizinisch behandelt wird – Unter 300 Euro Rente als Zahnärztin
Von Gundula Zilm, RHEINPFALZ-Redation Kaiserslautern
In ihrer Heimat hat sie 40 Jahre lang als Zahnärztin gearbeitet, in Deutschland reicht diese Rente zusammen mit ihrer deutschen nicht einmal zum Leben. Genrietta D. verließ Russland, damit ihr kranker Sohn medizinisch behandelt werden konnte.
Weit unter 300 Euro Rente im Monat bekommt die 80-jährige Genrietta vom russischen Staat. Als sie 2002 nach Deutschland übersiedelte, bekam die damals 57-Jährige auf dem Arbeitsamt zu hören, sie sei zu alt, sie habe keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Also nahm sie einen Minijob als Putzfrau an. Und muss heute beim Sozialamt wegen Grundsicherung vorstellig werden, da die Rente unter dem Existenzminimum liegt. Ihr Sohn wurde nicht einmal 40 Jahre alt.
Aber klagen hört man sie mit keinem Wort. Für alles hat sie Verständnis. Vielmehr bedankt sie sich immer und immer wieder für jede kleine Zuwendung, die ihr zuteil wird. Für die Zeit, die ihr die Helferinnen und Helfer von alt – arm – allein schenken, wenn sie mit ihr reden. Für die vielen Spenden an den Verein. Für den Kühlschrank, der ihr übergeben wurde. Für die Freundschaften, die sie in der jüdischen Gemeinde gefunden hat.
Schmal, fast zusammengekauert sitzt sie auf dem Stuhl, ihre Hände an eine Tasse Tee auf dem Tisch geklammert. „In Moskau sagte man mir, mein Sohn habe nur noch ein Jahr zu leben.“ Er litt an Diabetes, „brauchte Insulin und schließlich Dialyse, aber die Medikamente und medizinische Behandlung waren zu teuer“. Als Jüdin bekam sie als Kontingentflüchtling recht schnell eine Einreisebewilligung nach Deutschland und verließ zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Mutter Moskau. „Ich liebe mein Land“, betont sie immer wieder, doch das Leben und für ihren Sohn das Überleben waren nicht bezahlbar.
Ihr Mann war bereits im Alter von 38 Jahren gestorben. Als Alleinerziehende hatte sie es nicht leicht, ihre zwei Söhne – der andere lebt weiterhin mit Familie in Russland – durchzubringen. Sie hatte Zahnmedizin in Moskau studiert und dort in einer Klinik gearbeitet, „40 Jahre lang“. Als sie sich entschied, wegen ihres Sohnes die Heimat zu verlassen, stand für sie nie in Frage, dass ihre Mutter mitkommt, „sie war damals 80 Jahre alt, wie ich heute“.
Die medizinische Versorgung bekam ihr Sohn in Kaiserslautern, aber eine angemessen Arbeit für sie gab es nicht. „Ich wollte arbeiten“, betont sie und streicht mit der Hand über den Ärmel des „sehr warmen“ weißen Strickpullovers aus dem Second-Hand-Shop. „Aber auf dem Arbeitsamt sagte man mir, ich sei zu alt. Mit 57 Jahren.“ Dass sie daraufhin als Putzfrau in einem Minijob arbeiten musste, sieht sie bis heute gelassen. „Die Art der Arbeit war mir egal. Es ging mir nur darum, dass mein Sohn versorgt wird.“
Ihre unter 300 Euro Rente aus Russland, die sie alle drei Monate bekommt und die je nach Wechselkurs schwankt, und die 28 Euro Rente vom Minijob in Kaiserslautern werden mit der ihr zustehenden Grundsicherung verrechnet. „Das verstehe ich“, klagt sie mit keinem Wort darüber, dass andere für dasselbe Geld nichts tun oder getan haben.
Das für sie Wichtigste hatte sie erreicht: Ihr Sohn bekam in Kaiserslautern Insulin, dann „zwei Jahre und sechs Monate lang Dialyse, und nach acht Jahren in Deutschland schließlich eine Spenderniere samt Bauchspeicheldrüse“, berichtet Genrietta. „Er hat noch zehn Tage gelebt, lag im Koma und ist dann gestorben.“ Offenbar wegen eines Behandlungsfehlers während des Komas, wie sie berichtet. Dieser Schlag hat ihr psychisch stark zugesetzt, gesteht sie, doch verhärmt hat er sie nicht.
In der jüdischen Gemeinde Kaiserslautern, die zum Großteil aus russischen Kontingentflüchtlingen besteht, hat sie schnell Anschluss gefunden. Ihr Gesicht hellt auf, beginnt fast zu strahlen, als sie von den Freundinnen erzählt, die sie dort gefunden hat. „Wir vier sind sehr eng, seit 22 Jahren. Wir feiern alle Geburtstage und Feiertage zusammen.“ Mit jenen verbindet sie mehr als nur die russische Sprache. Aber auch „die Deutschkurse besuche ich dort, und die Gottesdienste. Die helfen mir sehr“, sagt sie und ein Lächeln entspannt ihre Gesichtszüge.
Seit dem Tod ihrer Mutter lebt Genrietta allein in der Wohnung in der Friedensstraße. Ihren Sohn in Moskau zu besuchen, schafft sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr, und für ihn ist es seit dem Krieg mit der Ukraine sehr schwierig. Umso mehr freut sie sich über die Gesellschaft durch den Verein alt – arm – allein. „Das Waldfest, oder der Besuch der Kneispermühle: Das ist immer sehr schön! Ich danke von ganzem Herzen!“, sagt sie an Sabine Paulus vom Geschäftsstellenteam gewandt. „Das ist immer ein großer Feiertag!“
Quelle: DIE RHEINPFALZ, Ausgabe Pfälzische Volkszeitung vom Dienstag, 10. Dezember 2024